7. September 2015, 8.00 Uhr - Henri und Amelie auf dem Weg in die fünfte Klasse
Das alte ist vergangen, das neue angefangen... Glück zu, Glück zu im neuen (Schul)jahr, lieber Henri!
Heute Morgen haben wir Henri zum ersten Mal zur Waldorfschule gebracht ... nicht als Gast oder Chorkind ... seit heute ist er dort ganz "normaler" Schüler - na ja, so ganz "normal" natürlich nicht ;-) Ob als Kindergartenkind, Schüler in der Staatsschule, im Sportverein, beim Einkaufen im Supermarkt, selbst bei uns zu Hause: Henri wird immer eine besondere (Sonder-)Rolle haben und dies anzunehmen macht mir vieles leichter. Es ist durchaus so, dass wir mit Henri auffallen - jedoch kann ich diskriminierende Situationen an einer Hand abzählen. Ich bin dankbar, dass sie Henri und uns bisher weitgehend erspart blieben. Wenn es einmal vorkam, zum Beispiel hier, hat es mich zutiefst verletzt und nicht nur traurig, sondern auch wütend gemacht ... noch schlimmer war das Gefühl der Ohnmacht, nichts tun zu können, um mein Kind zukünftig zu schützen, irgendwie immer vom Wohlwollen der anderen abhängig zu sein.
Wenn Henri länger und intensiver angeschaut wird - ob von Erwachsenen oder Kindern - empfinde ich die Blicke nicht als "gaffend", eher fragend, unsicher oder auch einfach neugierig. Diese Sorte wird doch auch immer seltener ;-) und wenn der Blick etwas länger haften bleibt, scheint mir das eine sehr natürliche und auch menschliche Reaktion zu sein. Bei Kindern reagiere ich gerne mit einem freundlichen "Habt ihr eine Frage?". Meistens gibt es tatsächlich Fragen, zum Beispiel "Warum ist der so?" - genau so formulieren es viele Kinder und immer fällt mir dieses so auf. Sie sagen nicht "behindert" oder "komisch" und schon gar nicht "krank", sondern einfach "so". Es wäre nicht hilfreich, wenn ich ihnen antworten würde, dass "er ein Kind wie alle anderen ist". Für Kinder (und auch für Erwachsene), die Henri zum ersten Mal erleben, ist es offensichtlich gut nachzuvollziehen, wenn ich ihnen erkläre, dass Henri eben ein "bisschen anders ist", "dass er so auf die Welt gekommen ist", dass er in vielem nicht so schnell ist, manches nicht so gut versteht wie sie und (noch) nicht so gut sprechen kann.
"Ich bin anders - du auch" - hinter diesem Slogan steckt sicher die positive Absicht, unsere Kinder in ihrer Würde und Einzigartigkeit zu achten und vor Diskriminierung zu schützen und dennoch muss ich sagen: Henri ist "anders anders". Das heißt natürlich nicht, dass alle anderen, nicht behinderten Kinder "gleich" sind, aber sie haben doch mehr Schnittmengen miteinander. Es ist schon etliche Jahre her, dass unser Kinderarzt in einem Vortrag erwähnte, dass Downies untereinander mehr Ähnlichkeiten haben als mit ihren Geschwistern. Es hat mir einen Stich versetzt, der lange Zeit geschmerzt hat.
So schnell sind die letzten Wochen vergangen - trotz Ferien waren es volle Tage. Denn wenn man zu sechst verreist, muss es wohl so sein, dass die Tage gefüllt sind, meistens sogar dicht. Auch wenn man keine Ausflüge macht, ist immer "etwas los", in jeder Beziehung. Und Beziehung darf hier auch ganz wörtlich verstanden werden - bei einer sechsköpfigen Familie sind es 15 an der Zahl ... wechselnde Koalitionen nicht eingerechnet. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten und Formen der Interaktion ... so viel Bewegung erfordert viel innere Beweglichkeit und auch Kompromissbereitschaft und natürlich ist es eine Herausforderung, wenn sechs Menschen (davon drei erwachsen, der vierte nahezu volljährig, der fünfte mit dem little Extra (-Chromosom) ausgestattet, als Nummer sechs mischt noch eine kleine Hummel mit, die auch sehen muss, wo sie bleibt) sich vier Wochen lang einen kleinen Bungalow teilen. Aber wir haben es auch dieses Jahr wieder geschafft und es sieht so aus, dass wir uns auch 2016 wieder der Herausforderung stellen werden ;-)
Für Henri waren es nicht nur schöne Urlaubstage mit ganz viel Zeit zum Fahnenstehen - wieder hat er Schritte in Richtung Selbständigkeit gemacht ... z.B. hat er seine Einkaufskompetenzen kurz vor der Abreise noch einmal erweitert: Nun kann er nicht nur Milch im Selbstbedienungsbereich, sondern sogar Körner ;-)baguette in der Bäckerei kaufen. Bei seinem allerletzten Einkauf war er dann so frei, für Elias noch eine Tüte Gummibärchen und für sich selbst eine Packung glutenfreier Kekse mitzubringen. Auch wenn - oder besser: weil - dies so nicht abgesprochen war, war die Familie außer sich vor Begeisterung über so viel Eigeninitiative. Schwer zu sagen, wer sich am meisten gefreut hat...
Vollmond in Spanien. Nach dem Abendessen lässt sich Henri nicht abhalten, mit seinen Kinderkamera an den Strand zu ziehen. Ich folge ihm - schon ahnend, dass das Ergebnis ihn nicht zufriedenstellen wird, nicht einmal das Selfie ;-) Also fotografiere ich für ihn und verspreche ihm, das Foto zu Hause auszudrucken.
Noch vor einer Woche hatten wir Sommer ...
Schwimmkurs mit dem großen Bruder: Tauchen kann Henri schon seit Jahren ;-). Er springt auch ohne Furcht von Einerbrett und schwimmt bis zum Rand, aber an Technik und Ausdauer fehlt es ihm immer noch. Ich bin (fast) sicher: Auch das Schwimmen wird er noch lernen.
Marie hat wirklich alles getan, um ihm das erste selbständige Schwimmen auf der Luftmatratze so leicht wie möglich zu machen ... und dennoch: irgendwas war nicht in Henris Sinne und er hat fürchterlich (und ausdauernd!) getobt. Bewusst habe ich mit den vielen anderen Menschen am Strand jeden Blickkontakt vermieden.
Diese Geschwister zu haben ist für Henri wohl das größte Glück ❤️
Schön war's mit euch!
Henri und der Pool: Nie wurde ihm langweilig... Die meiste Zeit war er mit Springen beschäftigt - die Begeisterung vor und nach jedem Sprung hat bis zum letzten Ferientag nicht nachgelassen. Oben rechts seht ihr eine vertraute Situation: Kinder nähern sich Henri an und kommen mit ihm ins "Gespräch" ... Sie fragen ihn nach seinem Namen, wie alt er ist, wo er wohnt ... es sind angepasste Fragen, auf die er antworten kann und die ihn nicht überfordern. Vielleicht war es für manche Kinder das erste Mal, dass sie die Möglichkeit hatten, so frei mit einem behinderten Kind zu sprechen. Auch wenn ich nicht alles verstehen konnte, weil ich mich auf der Terrasse im Hintergrund gehalten habe ... die Unterhaltung mich hat es sehr berührt. Nicht nur, weil es Henri ganz offensichtlich gut getan hat, sondern weil ich das Gefühl hatte, dass auch die anderen Kinder von dieser Begegnung etwas Gutes mitgenommen und vielleicht auch in ihre Familien getragen haben.
Auch wenn es sich (noch) nicht so anfühlt: Nachdem Marie im Februar die Teenie-Zeit hinter sich gelassen hat, haben wir nun wieder zwei Teenager in der Familie: Am 28. August haben wir mit Henri seinen 13. Geburtstag gefeiert! ❤️
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Gabriela (Freitag, 02 Oktober 2015 22:30)
Wie es euch allen wohl geht, vor allem aber den beiden 5.-Klässlern?
<3
Gabriela
henri-mittendrin (Samstag, 03 Oktober 2015 00:38)
Ach, liebe Gabriela, schön, dass du da bist!Es ist gerade nicht so leicht. Die Kinder und wir haben etwas zu verdauen, wovon ich schon beim Schreiben am 7. September eine ganz und gar unbewusste Vorahnung hatte. Die Haut ist eben dünn. Das alte ist vergangen, das neue ist vergangen ... Und das, was vor drei Wochen noch neu war, ist jetzt schon wieder alt. Unser liebster Klassenlehrer (er selbst würde wohl "herzallerliebster" sagen, denn so nannte er seine Klasse immer) - der sich für Henris Aufnahme so sehr eingesetzt hatte - verlässt die Schule. Henri ging es richtig gut in den letzten Wochen und obwohl es mir immer ein Bedürfnis war, zu schreiben, hat die Zeit bisher nicht einmal zu einem kleinen dankbaren Bericht gereicht. Mir fehlt gerade die Luft zum Durchatmen - die Schweizer würde mir besonders gut tun. Aber ich werde mich melden!
Für die aktuelle Situation könnte ich keine besseren Worte finden als deine - ich hatte sowieso vor, sie dir heute Abend als erste Antwort zu geben. Den Titel hatte ich allerdings nicht in Erinnerung - nun, so passt es doppelt gut. Einen lieben Herzgruß!
http://aufeinanderzu.blogspot.de/2015/09/lehrerwechsel.html