Henri besucht seit zwei Jahren eine Montessori-Grundschule. Er geht dort mittlerweile in die vierte Klasse.
Inklusion gehört bei Montessori gewissermaßen zum Programm: Die Kinder lernen in alters- und klassengemischten Lerngruppen. "Klassen" im ursprünglichen Sinne gibt es an dieser Grundschule nicht - Erst-, Zweit-, Dritt- und Viertklässer arbeiten zusammen in einer Lerngruppe. Dabei sind die verwendeten Arbeitsmaterialien dem einzelnen Kind und seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen angepasst. Es kann z.B. sein, dass sich ein Schüler im Fach Rechnen bereits auf dem Niveau eines Drittklässers, im Schreiben dagegen eher auf Zweitklassniveau bewegt. Für Henri hat diese Lermethode u.a. den großen Vorteil, dass er bezüglich der Arbeitsblätter und -materialien keine Sonderrolle mehr hat. Im Laufe der beiden ersten Schuljahre an einer "normalen" Grundschule hatte er zunehmend darunter gelitten, dass er fast immer andere Kopien als seine Mitschüler bekam ... oft war er richtig wütend und schimpfte.
Henris Klassenlehrerein wird unterstützt von einer Co-Lehrerin. Ein nur stundenweise tätiger Förderlehrer von extern soll den sonderpädagogischen Förderbedarf von zwei behinderten Kindern abdecken. Beide Kinder haben außerdem jeweils eine Integrationshelferin, die sie im Schulalltag unterstützen. Henris Helferin ist morgens schon in der Schule, wenn ich ihn bringe und begleitet ihn durch den Tag, bis wir ihn mittags abholen. Er hat einen sehr engen Bezug zu ihr und ich muss zugeben, dass Inklusion unter den gegenwärtigen Bedingungen auch an unserer Schule ohne den Einsatz sehr engagierter Integrationshelferinnen nicht möglich wäre. In letzter Zeit wird viel über Inklusion diskutiert, spätestens seit "Henri darf nichts aufs Gymnasium". Nachdem ich gelesen hatte, worum es den Eltern geht, habe ich deren Petition "Henri will aufs Gymnasium" an den Kultusminister Stoch, Baden-Würtemberg unterzeichnet. Der Wunsch der Eltern wird offenbar von vielen missverstanden, selbst von Unterzeichnern der Petition. Manche äußern sich empört, dass es nicht sein kann, dass man einem begabten Kind den Zugang zum Gymnasium verwehrt, nur weil es Down-Syndrom hat. Henris Eltern sind jedoch nicht etwa besonders ehrgeizige Eltern, die meinen, ihr Sohn müsste an diesem Gymnasium in acht oder neuen Jahren sein Abitur machen. Sie kämpfen dafür, dass Henri auch nach Abschluss der Grundschulzeit weiterhin mit seinen Klassenkameraden lernen kann. Es geht um die Frage, ob man einem Kind zugesteht, dort lernen zu dürfen, wo es sich wohlfühlt ... selbst dann, wenn seine intelektuellen Fähigkeiten nicht denen der Freunde und Klassenkameraden entsprechen.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass vieles möglich ist ... wenn die Lehrer dahinter stehen. Alles steht und fällt mit den Menschen, die unsere Kinder begleiten. Wir sind sehr froh, dass Henri Teil einer "ganz normalen Klassse" sein darf. Er wird dort akzeptiert und die meisten Kinder mögen ihn gern.
Im Bereich Lesen und Schreiben hat Henri im Laufe der letzten Jahre recht gute Fortschritte gemacht. Er liest mittlerweile sehr kleine Geschichten und kann auch Fragen dazu beantworten. Das Abschreiben längerer Texte fällt ihm relativ leicht ... allerdings macht es ihm auch nicht viel aus, wenn er den Sinn nicht erschließen kann... Kürzlich lag in seinem Ranzen ein längerer handgeschriebener Text über "heißblütige, emotionale Araber" ... es muss sich dabei um eine Pferderasse handeln, über die er in der Freiarbeit in einem Buch gelesen hat... :-)
Rechnen ist eine ganz große Herausforderung - DIE Methode zum Rechnenlernen bzw. zur Heranbildung eines gewissen Zahlenverständnisses haben wir bisher leider noch nicht gefunden. Obwohl wir und natürlich auch die Lehrer und Lehrerinnen, die er bisher hatte (und das waren nicht wenige...), schon einiges versucht haben, bewegt sich Henri immer noch im Zehnerraum.
Erst vor kurzem haben wir Nachricht vom Kultusministerium bekommen, dass Henri die vierte Klasse wiederholen und damit noch ein Jahr an seiner Jahr Grundschule bleiben darf. Während "Sitzenbleiben" an jeder anderen Schule für die meisten Kinder wohl eher problematisch ist, bedeutet diese Entscheidung für Henri, dass er noch ein Jahr mit seinen Klassenkameraden zusammensein darf. Auch wenn einige Viertklässler nun zu einer weiterführenden Schule wechseln und neue Erstklässler dazukommen ... der vertraute Klassenverband bleibt ihm erhalten. Wie es in einem Jahr weitergeht, steht noch in den Sternen, aber ich hoffe sehr, dass Henri auch nach der Grundschulzeit seinen Platz finden wird.
Die nun folgenden Fotos sind alle an der Grundschule entstanden, wo Henri seine ersten beiden Schuljahre verbracht hat.
Gestern haben wir Post bekommen ... es war eine der schönsten Nachrichten der vergangenen Jahre ... etwas, was noch vor 5 Jahren undenkbar gewesen wäre: Henri wird ab dem kommenden Schuljahr "unsere" Waldorfschule besuchen.
Als im Frühjahr 2010 die Einschulung anstand, mussten wir zum ersten Mal die Erfahrung machen, dass Henri Türen verschlossen bleiben, die seinen Geschwistern bereitwillig geöffnet werden. Es war eine bittere Erfahrung, dass selbst eine heilpädagogische Schule sich nach monatelangen "Bewerbungsgesprächen" letztendlich nicht in der Lage sah, Henri in einer Kleinstklasse mit weniger als zehn Schülern einen Platz einzuräumen. Die Worte des Vorsitzenden des Aufnahmegremiums waren damals: "Wenn nach zwei oder drei Jahren das Intellektuelle beginnt, ist sowieso Schluss..." Erklärend muss angemerkt werden, dass Henri aufgrund des Down-Syndroms der Gruppe der "geistig Behinderten" zuzuordnen ist - die heilpädagogische Schule sich jedoch vornehmlich für die Beschulung "lernbehinderte Kinder" zuständig sah. Per Unterschrift sollten wir bestätigen, dass wir uns schon vorab mit einem Schulwechsel am Tag X ("wenn das Intellektuelle beginnt") einverstanden erklären. Henri hätte an dieser Schule, die uns bis dahin als der beste Ort für seine seelisch-geistige Entwicklung erschienen war, nicht einmal die Grundschulzeit verbringen dürfen. Die Entscheidung fiel zu einem Zeitpunkt, als an vielen Grundschulen die Anmeldefrist bereits überschritten war.
Es hat sich gefügt, dass Henri an einer "ganz normalen", aber sehr offenen Grundschule mit viel Offenheit für inklusive Konzepte aufgenommen wurde. "Ganz normal" sage ich, weil wir oft gefragt werden, ob Henri auf eine "Behindertenschule" geht. "Normale Schule" verstehen alle. Natürlich können sich die meisten Eltern (nicht behinderter Kinder) nicht vorstellen, wie das möglich sein soll, aber das ist ein anderes Thema. Unsere erste Begegnung mit "Staatsschule" war überraschend gut. Wir hatten - wie die meisten Lehrer dort - keine Erfahrung mit Integration und waren begeistert, wie schnell Henri seinen Platz gefunden hat. Dies lag nicht nur an der Schulleitung und den LehrerInnen, sondern auch an der herz - lichen Unterstützung durch seine Integrationshelferinnen.
Zwei Jahre später taten sich neue Wege auf: Zum neuen Schuljahr stand die Eröffnung der ersten Montessori-Grundschule in unserer Region an - unter Leitung einer Lehrerin, die Henri bis dahin an der Grundschule in Kunst unterrichtet und schon von Beginn an eine besondere Beziehung zu ihm hatte. Der Abschied von der Grund- und der Wechsel zur Montessorischule fiel uns allen nicht leicht, aber wir waren zuversichtlich, dass er auch an der neuen Schule gut aufgehoben sein würde. Dafür sprach nicht nur, dass seine Lehrerin und auch eine der Integrationshelferinnen mit ihm wechseln würde. Das Montessorikonzept schien uns wie geschaffen für eine inklusive Beschulung: Jedes Kind lernt nach seinem Tempo - es gibt keine "Klassen", sondern klassenübergreifende Lerngruppen. Auch wenn es vorab in unserem Umfeld viel Skepsis gegenüber so viel Neuem gab ... Unsere Entscheidung erwies sich als richtig: Henri fühlte sich in der neuen Schule von Beginn an so wohl, dass wir in der vierten Klasse einen Antrag auf Rückstellung gestellt haben - gerade "wiederholt" er in der Montessorischule die vierte Klasse und wenn es nur nach ihm und uns ginge, könnte es noch viele Jahre so weitergehen. Aber leider ist es nur eine Grundschule und spätestens nach der zweiten Rückstellung würde der Wechsel auf eine weiterführende Schule anstehen.
Schon im letzten Jahr haben wir begonnen, uns Schulen in der Region anzusehen: Wir hatten Gespräche mit Lehrern, Integrationshelfern und auch Eltern anderer Schulen - an einer Schule hat Henri hospitiert. Wir haben nicht wenige engagierte Lehrer mit innovativen Konzepten kennengelernt - es gibt mittlerweile an den meisten Schulen erfreulich viel Offenheit. Und dennoch: Beim Gedanken an den bevorstehenden Schulwechsel wurde mir das Herz schwer... und nur meinem Gottvertrauen habe ich es zu verdanken, dass ich nicht völlig den Mut verloren habe... In der Adventszeit kam mir - wie aus heiterem Himmel - eine Art "Eingebung" ... die nach Verwirklichung rief ... Am 8. Dezember hatte Henri bereits um 10.00 h einen Termin in der Kinderkardiologie und die Fahrt zur eine halbe Stunde entfernt gelegenen Montessorischule hätte sich kaum gelohnt. So begleitete er mich um 8.00 h zum Adventssingen an der Waldorfschule... der Schule, wo Marie im vergangenen Jahr ihr Abitur gemacht hat, Elias die elfte und Amelie die vierte Klasse besucht... im angeschlossenen Kindergarten haben alle unsere Kinder - auch Henri - eine wundervolle Kindergartenzeit verbracht. Die Stimmung beim Adventssingen war wie immer sehr anrührend - ein Ruhepunkt in der oftmals hektischen Vorweihnachtszeit. Die Kinder der ersten sechs Klassen sangen Adventslieder, unterstützt und begleitet von Lehrern und Eltern ... und Henri stand mittendrin ... so, als würde er dazugehören... Noch am gleichen Tag nahm ich all meinen Mut zusammen, bemühte mich, Gedanken in Worte zu fassen, die mir - zu diesem Zeitpunkt - fast revolutionär vorkamen. Was heißt "fast"?
Ab dem kommenden Schuljahr wird Henri die Freie Waldorfschule Bexbach besuchen - als erstes Kind mit geistiger Behinderung. Zusammen mit seiner "kleinen" (großen) Schwester Amelie wird Henri dort das fünfte Schuljahr beginnen. Wieder wird ein neuer Weg eine Herausforderung sein: Nicht nur für Henri und uns Eltern, sondern auch für die Schulgemeinschaft, die große fünfte Klasse und insbesondere auch für unseren hochgeschätzten Klassenlehrer, dessen Mut und Einsatz wir die heutige gute Nachricht zu verdanken haben.