Was macht der Henri eigentlich? Zum Beispiel nutzt er die öffentlichen Verkehrsmittel

Was macht der Henri jetzt eigentlich? fragen Bekannte und Menschen, die wir länger nicht gesehen haben. Diese Frage bewirkt bei mir regelmäßig einen Stimmungsschub in die richtige Richtung. 

 

Anfang 2020 hatte ich mir hier im Blog erstmals meinen Kummer um Henris Förderung an der Förderschule von der Seele geschrieben. 

Grundtenor der Beiträge für die, die damals noch nicht hier waren oder sich nicht mehr so gut erinnern:

Henri fühlte sich an der Förderschule sehr wohl (ein ganz großes Plus und eigentlich die Basis von allem anderen), jedoch hatte ich mir die versprochene individuelle Förderung anders vorgestellt. Henri hat dann aber – was die Verbesserung der Kulturtechniken angeht - von den langen Schließ- und Homeschooling-Zeiten profitiert und zu Hause so viel gelernt wie lange nicht – jeden Tag vier Stunden lernzielorientierter Privatunterricht am Esstisch. Die Tage, Wochen und Monate waren für Henri klar strukturiert - mit viel Abwechslung und auch genügend Ruhe und Zeit zum Nichtstun, Kugelbahnbauen, Dick & Doof gucken und Fotos bearbeiten, löschen und neu ordnen. 

 

Wir waren in der Zeit viel draußen und haben statt Fitness-Studio zu Hause Sport gemacht. Es wäre alles gut gewesen, wenn Henri nicht seine Freunde in der Schule und bei der Jugendfeuerwehr, einfach alle seine Kontakte vermisst hätte. Als Einzelkind wäre die Zeit mit seinen Homeoffice-Eltern bestimmt noch schlimmer gewesen ;-). So gab es zumindest längere Besuche der großen Geschwister und dank ausgiebiger Tests und Masken hatten wir trotz vieler Einschränkungen zumindest ein recht intensives Familienleben. 

 

Seit einem Dreivierteljahr liegt die Schulzeit hinter Henri und uns. Ausgerechnet an seinem letzten Schultag, der mit einer kleinen Feier und einem letzten Zusammensein mit seinen KlassenkameradInnen begangen wurde, war ich nach Tagen mir starken Symptomen Corona positiv. Es hat mir leidgetan, Henri an diesem besonderen Tag nicht auch begleiten zu können. Damals konnte er sich nicht vorstellen, nach den Ferien nicht mehr zur Schule zu gehen und Erklärungen über die sich anschließende berufsvorbereitende Maßnahme bei MLL waren für ihn völlig abstrakt und ohne konkreten Inhalt. 

 

Bevor ich in meinem nächsten Blogbeitrag darüber berichte, was Henri jetzt eigentlich macht, beschreibe ich heute erst einmal, wie Hin- und Rückweg nach Saarbrücken sind - denn das ist das erste Erfreuliche 😊.   

 

Schon bevor es bei MLL losging, haben wir erfahren, dass Henri (wie seine Freundin L., ebenfalls DS) erst einmal ein sogenanntes Fahrtraining macht. L. hatte mit der Maßnahme zwei Jahre früher begonnen und ich fand es so klasse, dass sie mit dem Zug nach Saarbrücken fährt – alleine und ohne Begleitung. Ich konnte mir damals kaum vorstellen, dass Henri sich jemals selbständig mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen könnte. 

 

Als sein Betreuer Michael zu Beginn der Maßnahme auch für Henri das Fahrtraining ankündigte, hatte ich die Sorge, dass es vielleicht bald wieder abgebrochen wird, weil es für Henri eine Stufe zu krass ist. 

 

Michael hatte einen Fahrplan erstellt, nach dem Henri jeden Tag von unserem kleinen Dorf nach Saarbrücken und zurück fahren sollte. 

Am ersten Tag holte Michael ihn bei uns zu Hause an der Haustür ab und ging mit ihm zusammen 5 Minuten Fußweg zur Bushaltestelle. Von dort fuhren sie mit dem Anrufsammeltaxi zum Hauptbahnhof in Homburg und von dort dann mit dem Zug nach Saarbrücken. Vom Bahnhof aus sind es noch 20 Minuten Fußweg bis zu MLL. 

Am Nachmittag ging es dann mit den gleichen Verkehrsmitteln zurück und um 17.00 Uhr kam Henri zum ersten Mal zurück. An zweiten Tag hat Michael bereits an der Bushaltestelle auf ihn gewartet…weil es wirklich gut klappte, wurde die Begleitung immer weiter reduziert und bereits nach zwei Wochen fuhr Henri selbständig mit dem Zug nach Saarbrücken. 

Ihr könnt euch denken, dass nicht immer alles reibungslos lief und Henri auch mal im falschen Zug oder am falschen Bahnhof war … aber er hat sich immer per Handy gemeldet und nach Unterstützung gefragt. Nie hat er bei mir oder Dirk angerufen, sondern immer bei Michael oder seinen KollegInnen. Handyortung und WhatsApp-Video machen es möglich, herauszufinden, wo Henri sich gerade aufhält. Bis auf einen einzigen Vorfall ganz am Anfang ist Henri immer ruhig geblieben und die Zugfahrt am nächsten Tag wieder mit Zuversicht angegangen. 

 

Nach ein paar Wochen und viel Lob von Michael wurde mir bewusst, dass Henri es wirklich geschafft und eine ganz neue Stufe der Selbstständigkeit erreicht hat. Wenn er heute nach Hause kommt, ist er immer gut gelaunt und der Stolz ist nicht zu übersehen … und auch ansteckend 😊. Dann geht er erst mal eine Runde mit Juri – ein Ritual, das beiden guttut. 

 

Wenn ich daran denke, wie er zu Förderschulzeiten (man muss schon sagen) „transportiert wurde“… Der Kleinbus hatte jeweils einen Fahrer und eine Helferin und hielt jeden Morgen bei uns vor dem Haus – die ersten drei Jahre über eine Stunde vor Schulbeginn (bei einer Fahrzeit von nur 15 Minuten). Die Morgenrunde des Busses begann immer bei uns – im Laufe der nächsten Stunde sind dann SchülerInnen aus Orten der Umgebung zugestiegen.

Die wenigen Schritte vom Haus zum Bus ging Henri mit seinem Ranzen auf dem Rücken. Die Helferin nahm ihm den Ranzen ab, verstaute ihn im Kofferraum und half Henri in den Bus. Bei der Rückkunft das Gleiche: Ausstieg aus dem Bus mit Hilfe, Helferin zieht Ranzen auf den Rücken – Eltern nehmen ihn an der Haustür in Empfang.

Diese Hilfe war für mein Empfinden immer völlig überdimensioniert und das Gegenteil von Selbständigkeitstraining. Auf der anderen Seite hatten Fahrer und Helferin bestimmt den klaren Auftrag eines sicheren und risikoarmen Transports und waren immer sehr bemüht. Ich hätte ihnen sagen können, dass Henri weder beim Ein- und Aussteigen noch beim An- und Ausziehen des Ranzens Hilfe braucht – aber ihn einfach zu lassen, wäre mit ihrem Selbstverständnis wohl nicht vereinbar gewesen. Nach anfänglichem Unverständnis über diese „Überversorgung“ gelang es mir bald, das Bemühen der beiden wertzuschätzen und so hatten wir trotz unterschiedlicher Vorstellung davon, was ein Mensch mit Einschränkung braucht, jahrelang ein freundliches Verhältnis zu den beiden. 

 

Die beiden und auch Henris Lehrerinnen würden bestimmt staunen, wenn sie wüssten, wie Henri sich heute fortbewegt. Ich hätte es ja selbst kaum für möglich gehalten, aber wie schon so oft hat Henri uns überrascht. Ich sollte daraus lernen, dass ich ihm immer etwas mehr zutrauen sollte, als mein erstes Bauchgefühl sagt. Wie gut, dass Henri selbst die Zuversicht hat, die mir manchmal fehlt! 

 

Henri und das Sammeltaxi (14. März 2023)

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