Unser Wochenende - Vertrautes und Neues

Was für ein Wochenende - dabei war es doch das letzte in den Ferien und mit reichlich Erwartungen, die freie Zeit noch einmal richtig genießen können, besetzt.

Wovon ich zuerst berichte,  ist das Vertraute - mit Henri notfallmäßig in die Klinik zu gehen, ist auch für uns kein Alltag, aber es kommt leider immer mal wieder vor. Am Freitag rief mich Dirk beim Arbeiten an  - weil er das  eigentlich nie tut,  dachte ich mir schon, dass es wohl einen wichtigen Grund geben wird. Schon seit September klagt Henri öfters über Bauchschmerzen, die kommen und auch wieder verschwinden. Manchmal hat er sogar Tränen in den Augen und auch, wenn er es mit einem Bald besser! herunterzuspielen versucht, ist ihm anzusehen, dass es richtig wehtun muss. Als chronisch krankes und krankenhauserfahrenes Kind fürchtet er bei jeglichen Beschwerden in die Klinik zu müssen (für ihn heißt das Spritze, Blutentnahme, Infusion) und er hält sich daher, wenn es ihm nicht gut geht, sehr zurück. Am späten Freitagvormittag dann hat er sich aufs Sofa gelegt und richtig geweint - verständlich, dass Dirk vorgeschlagen hat, dass wir uns direkt in der Klinik treffen, zumal freitags um diese Zeit kein Arzt mehr zu erreichen ist.

In der Klinik wurde er eingehend untersucht - nicht nur der Bauch, es war ein Rundum-Check. Wie gut, dass beim Abtasten und Echo des Bauchraums außer ein paar Verstopfungen im Darm nichts Besorgniserregendes festgestellt werden konnte. Henri geht regelmäßig und ohne Probleme auf die Toilette - dass die Schmerzen einen so banalen Grund haben könnten, hätte ich nicht erwartet. Nach dem Abführen waren die Bauchschmerzen weg und wir erst einmal erleichtert. Ein Herzkind wird aber nicht so schnell nach Hause geschickt - nachdem die Untersuchung des Bauches abgeschlossen war, musste Henri noch zum EKG in die Kinderkardiologie. Dort stellte sich heraus, dass Henri kaum eine eigene Herzfrequenz hat und fast jeder Herzschlag vom Schrittmacher ausgelöst wird. Er ist vor vier Jahren eingesetzt worden, damit er im Notfall und wenn Henris eigene Frequenz auf 35 Schläge/Minute abfällt, einen Impuls setzt. Ob der Schrittmacher im August, nachdem er vor dem MRT abgeschaltet worden war,  neu eingestellt wurde oder der eigene Herzschlag jetzt dauerhaft unter 35 liegt, wissen wir nicht - der Prof., der Henri sonst betreut, war am Freitagnachmittag nicht mehr erreichbar.  Wir hoffen natürlich , dass ersteres der Fall ist ... Am kommenden Dienstag haben wir einen Kontrolltermin in der Kinderkardiologie. 

Mit diesen regelmäßigen Vorstellungen in der Notfallambulanz sind wir mittlerweile  schon vertraut - nichts Neues...

 

Am Samstag machten wir dann eine für uns neue Erfahrung: Am Donnerstag hatte der niedergelassene Orthopäde Henri einen sog. Geradehalter verordnet, den wir im Sanitätshaus anpassen lassen wollten. Einen Geradehalter kann man sich wie eine Art Korsett light vorstellen. Er ist aus Stoff, weniger groß und passt in eine kleine Papierpackung. "Anpassen" bedeutet in diesem Fall nicht mehr als anziehen und einstellen. Tut nicht weh und ist - wenn überhaupt - nur ein bisschen unangenehm. Es war zu Hause schon nicht einfach, Henri zum Duschen und Anziehen zu bewegen. Weil die Zeit langsam immer knapper wurde, durfte er sich ohne Duschen anziehen. Als wir beim Sanitätshaus aus dem Auto stiegen, hatte der Laden noch zwanzig Minuten geöffnet. Wir waren also nicht zu spät und die Anprobe hätte in dieser Zeit locker über die Bühne gehen können. Jedoch hatten wir nicht damit gerechnet, dass wir an diesem Tag auf keinerlei Kooperationsbereitschaft hoffen durften. Henri saß auf der Liege und lehnte jede Kommunikation ab. In der Not begann ich nach  zehn Minuten zu drohen: Wer Henri kennt, weiß, dass es nicht viel gibt, mit dem er zu beeindrucken sein könnte. Ich drohe ihm also (Henri ist in solchen Situation eine echte pädagogische Herausforderung! und ich behaupte, das hat mit dem Down-Syndrom zu tun) , dass er ein paar Tage auf die Kugelbahn verzichten muss ... keine Reaktion, nur Abwehr... und setze dann noch eines drauf: auch die Fahne 😱. Die Reaktion bleibt gleich null. Wir können es nicht glauben: Henri lässt aufwändige und teilweise schmerzhafte Behandlungen beim Kieferorthopäden über sich ergehen, er lässt sich Blut abnehmen, Spritzen geben, er hat das Korsett so geduldig getragen wie wohl kaum ein anderer ... und nun schaffen wir es nicht, ihn zu bewegen, dieses rucksackähnliche Stoffteil anzuziehen.Wir stehen da, sehen und verzweifelt an und haben das Mitgefühl der beiden Mitarbeiter im Sanitätshaus. Nach 20 Minuten und pünktlich zum Ladenschluss gehen wir unverrichteter Dinge.

Danach fahren wir noch in den nahe gelegenen Supermarkt, in dessen Restaurant Henri immer mit großer Freude seine geliebten Kartoffeln mit Quark isst. Das ist zwar kein Standardgericht, aber seine Vorliebe ist den Mitarbeiterinnen dort mittlerweile bekannt und es ist ihnen nicht zu viel, dazu den Quark vom Frühstücksangebot aus dem Kühlschrank zu holen. 

Als wir im Globus ankommen, ist die scheinbare Regungslos- und Sprachlosigkeit plötzlich verschwunden und macht einem emotionalen Ausbruch Platz. Henri setzt sich auf eine Bank, entschuldigt sich mit einem Mama lieb und Entschuldigung, weint dann lauthals und schluchzt Ich mag nur Kugelbahn und Fahne. Ich bin nicht behindert. (Niemand möge auf den Gedanken kommen, jemand aus unserem Umfeld habe ihm vorgeworfen, behindert zu sein!)  Ihm mit deren Entzug zu drohen war keine pädagogische Leistung und nun bereue ich es. Wir verständigen uns darauf, dass ihm die Kugelbahn schon nach einem Tag wieder zur Verfügung steht - vorausgesetzt, er lässt sich auf eine normale Kommunikation ein, antwortet zum Beispiel, wenn wir ihn etwas fragen. Bei Kartoffeln und Quark scheint es ihm dann wieder gut zu gehen - man ahnt nicht, wie mitgenommen er (und wir) noch eine halbe Stunde zuvor waren. 

Am Sonntagmorgen finden wir uns in einer ähnlichen Situation wieder, als Henri mit der Fahne auf der Wiese steht und den Nachbarskindern beim Geburtstagsfeiern zuschaut. Zum ersten Mal schaffen wir es nicht, ihn zum Sonntagsspaziergang zu bewegen. 

Im Blog einer Bekannten, die ebenfalls einen Jungen mit Down-Syndrom hat, habe ich vor einiger Zeit gelesen, dass dieser sich manchmal mitten auf den Bürgersteig  setzt oder legt und dann erst einmal gar nichts geht. Und als ob das nicht schon genug wäre, gilt es dann noch, mit den Reaktionen "besorgter" Mitmenschen umzugehen. 

 

 

13. Oktober 2018

Bei Kartoffeln und Quark ist erst einmal alles wieder gut. 

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