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Auf dem Pausenhof

Nach meinem gestrigen Besuch an einer inklusiven Gesamtschule war ich gerade ins Auto gestiegen, als es zur Pause klingelte und die ersten Kinder auf den Schulhof stürmten. Weil ein Mädchen mit Down-Syndrom - es war in Henris Alter - darunter war, bin ich nicht gefahren, sondern erst einmal auf dem direkt an den Schulhof angrenzenden Parkplatz stehen geblieben. Das Mädchen setzte sich mit seiner  Brotbox auf eine der Bänke und begann zu essen. Die anderen Kinder waren zu zweit oder in Gruppen unterwegs und ich habe mich erst einmal gefragt, ob es dem Mädchen denn nichts ausmacht ohne Gesellschaft in dem bunten Treiben zu sitzen. Aber es machte einen fröhlichen Eindruck und ich schob meine Gedanken zur Seite - und war gespannt, wie sich die Situation wohl entwickeln wird. Nach einer Weile kam ein anders Mädchen dazu - es hatte auch Down-Syndrom und schien etwas jünger zu sein. Die beiden saßen nun gemeinsam auf der Bank und unterhielten sich, lachten und gickelten. Irgendwann stand das erste Mädchen auf und entfernte sich etwas. Weil ich im Auto saß, konnte ich sie nicht hören, aber sie  lachte, tanzte und schien vor sich hin zu sprechen und zu singen. Es kam mir vor wie eine Bühnenvorstellung (Henri nennt so etwas Aufführung) jedoch ohne Zuschauer. Ganz in sich versunken schien sie und hat mich an Henri erinnert, wie er mit der Fahne auf der Wiese steht und laut lacht und vor Freude mit den Armen schlägt, wenn ein Windstoß kommt. Das zweite Mädchen saß nun genauso auf der Bank wie zuvor das erste, das jetzt die Vorstellung gab. Es hatte zwar keine Gesellschaft, wirkte aber nicht traurig - die Situation auf der Bank schien ganz normaler Pausenalltag zu sein. Dann durchquerte eine Gruppe von Jungs mein Blickfeld - darunter ein Junge mit Down-Syndrom, der auch in Henris Alter war. Durchaus bewusst, dass dies eine Momentaufnahme war, hat es mich gefreut, ihn so zu sehen, als einer unter Gleichaltrigen - mittendrin sozusagen, ganz mein Thema. Die Pause war immer noch nicht zu Ende und ich genoss es, diese Pausensituation so ungeplant erlebt zu können. Nun achtete ich darauf, ob ich außer den beiden Mädchen noch weitere Kinder entdecke, die alleine und ohne Gesellschaft unterwegs sind. Ein einziger Junge ohne Begleitung ist vorbeigezogen - lange hatte ich auf ihn warten müssen. Die Jungs waren fast alle in größeren Gruppen unterwegs, die Mädchen oft auch paarweise. Die Pause kam mir lang war und ich war dankbar für jede Minute, die ich dort hatte. Ob das große Mädchen noch mal zur Freundin auf Bank zurückkehren wird? habe ich mich gefragt. Es kam aber ein Junge, er schien schon älter zu sein, trug ein Cappy und kam schnell ins Gespräch mit dem jüngeren Mädchen - auch diese beiden schienen sich gut und fröhlich zu unterhalten. Mein Herz tat einen Freudensprung: So soll es sein :-) und sofort schoss mir Inklusion in den Kopf. Die Pause war nun zu Ende und der Junge stand auf und bewegte sich dem Eingang zu. Da erst bemerkte ich, dass er leicht hinkte und offensichtlich auch eine andere Einschränkung hatte. 

Dieses Erlebnis hat sich quasi nahtlos an die Beste-Freunde-Geschichte angeschlossen. Schön, dass diese Kinder einander haben dachte ich mir. Und wenn sie nicht darunter leiden, auf dem inklusiven Schulhof unter sich zu sein, umso besser. 

Jedoch habe ich wieder einmal erfahren, dass Kinder ohne Behinderung ganz offensichtlich eher die Nähe zu anderen Kindern suchen, die ebenfalls keine geistigen Einschränkungen haben. Das ist so und ich finde, man darf es ihnen nicht vorwerfen.Es ist schon ein großes Glück, wenn unsere Kinder mit ihrem Anderssein akzeptiert und auch geschätzt werden, wenn man sie teilhaben lässt. Je älter Henri wird, umso weniger kann ich anfangen mit Wir sind alle verschieden oder Jeder ist anders. Und umso mehr mache ich mir Gedanken, wie ich ihm Kontakte ermöglichen kann, die über Respekt hinausgehen. Ich wünsche ihm die Erfahrung, Menschen zu treffen, die seine Nähe und Freundschaft suchen - beste Freunde eben. 

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Kommentare: 8
  • #1

    Elisabeth (Freitag, 13 April 2018 11:59)

    Die Gedanken kenn ich. Leider ist es schwer Kontakte zu ermöglichen, die über Respekt hinausgehen.
    Zumindest hier bei uns.
    Robert "schnappt" sich zur Zeit Susannes Freundinnen. Und das ist nicht problemlos. Es sind ihre Freundinnen, und Robert kann nicht genug bekommen, wenn sie ihn mitnehmen. Z.B. ins Kino oder zum gelben Mc.... das haben sie von allein sehr gern getan, und nun würde er das am liebsten jeden Tag so wollen.
    Wenn die Mädeln nun ohne ihn etwas unternehmen oder nur in Susannes Zimmer allein sein wollen..... versteht er es nicht und wird traurig.
    Es ist schwer manchmal.
    Ich hätte gerne auch Jungs, die sich als seine Freunde fühlen. Kein Chance. da ergibt sich einfach nichts....
    liebe Grüsse und ein schönes Wochenende
    Elisabeth

  • #2

    henri-mittendrin (Freitag, 13 April 2018)

    Liebe Elisabeth, ich danke dir sehr für deinen Eintrag - umso mehr, als ich Stimmen wie deine so selten höre. Wenn ich immer wieder lese und höre, dass doch jeder anders ist und es von daher eigentlich unerheblich ist, ob ein Kind nun Down-Syndrom hat, weil ja alle Kinder verschieden sind, frage ich mich, ob das denn nun wirklich ernst gemeint oder vielleicht doch auch viel von Wunschdenken hat. Wo ich wohne, gibt es eine Selbsthilfegruppe, die mal einen Kalender mit dem Slogan "Alles ist möglich" herausgebracht hat. Je älter Henri wird, umso klarer wird mir, dass eben nicht alles möglich ist. Vielleicht sagt jetzt jemand, dass bei einem nicht behinderten Kind ja auch nicht alles möglich ist ... aber doch mehr als bei einem Kind wie Henri, der nicht nur einen komplexen Herzfehler und einen operationsbedürftigen Morbus Scheuermann hat, sondern dazu auch Einschränkungen im geistigen und sozialen Bereich. Was du von Susanne und deren Freundinnen beschreibst, erlebe ich Tag für Tag und es schmerzt immer wieder, daneben zu stehen, wenn Amelie abgeholt wird oder sich verabschiedet und Henri "auch übernachten" sagt. Was für eine Schule besucht Robert denn?

  • #3

    Elisabeth (Dienstag, 24 April 2018 11:58)

    Hallo ... jetzt hat die Antwort ein bisserl gedauert.
    Robert geht in eine Schule "zur geistigen Förderung" ... wir haben es damals nicht geschafft ihn in der Grundschule im Dorf, direkt gegenüber vom Haus in dem wir wohnten unterzubringen.
    Alle, wirklich alle hatten Argumente dagegen.
    Teils böse Sätze.
    Teils so "gescheit" formulierte Gründe, dass wir verunsichert wurden....

    Nun, es ist nicht gut, es ist nicht im geringsten "das Beste" für ihn gewesen. Nun, mit 17 Jahren können wir das laut und deutlich sagen.
    Leider vier Mal Schulwechsel. Seine drei ersten Grundschuljahre waren wohl eine Qual für ihn. Wir bekamen es nicht mit. Es wurde uns immer anders erzählt, und Robert kann und konnte sich nicht inhaltlich so äussern, dass wir es verstanden.
    Ein Kind das ständig spricht, aber nicht sagen kann: "Es geht mir nicht gut, die machen das und das und das mit mir.....!"
    Er wurde in Kellerräume gesperrt, Licht aus ....
    Er wurde immerwieder aus der Klasse genommen. Strafen sollten das sein!
    Als wir in eine solche Situation kam, total zufällig ... sass die Klasse mit 6 Kindern, 2 Lehrerinnen und einer Schulbegleitung im Klassenzimmer und hat Roberts Geburtstagskuchen gegessen.
    Robert war mit seine Schulbegleiterin im Keller .... weil er nur gestört hat!
    Ein Hausmeister hat uns den Weg gezeigt. Wir fanden ein weinendes durchgeschwitzes Kind ....eine Begleitung die nur darauf bestand, dass er diese Auszeiten brauchte ....
    Ich könnte ein Buch drüber schreiben.
    Ich hatte viel im Blog.
    Wurde dann aber von dieser Privatschule fast angezeigt. "Das lassen sie sich nicht bieten, ich hätte keine Ahnung wie dieses Kind solche Massnahmen braucht, und wenn ich die Veröffentlichung nicht rausnehme, wird ein Anwalt eingeschaltet!"
    Robert hat nie mehr diese Einrichtung betreten.
    5 Monate war er Zuhause. Das Schulamt wusste nicht mehr wohin mit ihm .....
    Die Einrichtung hatte nichts zu befürchten. Das waren dort viele und man hat ihnen geglaubt.
    Robert war dann wieder in einer Schule zur geistigen Förderung, wurde dort aber schnell aus der Tagesstätte ausgeschlossen ... weil sie den Schulbericht von vorher bekamen und es wäre ein Risiko ihn Nachmittag auch noch zu betreuen....
    Also auch da wieder weg.
    Dann ein Schule in der es 2 Jahre relativ gut ging.
    Wir mussten umziehen und deshalb ein Wechsel.
    Er geht nun das 3. Jahr in die Einrichtung in der er nun im Berufsschulzweig ist
    Er liest kaum, schreibt kaum.... dort tut ihm die Praxis gut. Aber er freut sich auf den Tag an dem er nie mehr in eine Schule muss.
    Er möchte auf einen Bauernhof arbeiten, es ist schwer etwas zu finden.
    Die Schule jetzt sieht ihn in den Werkstätten.... wir nicht.

    Du hast in Deiner Antwort geschrieben, dass manche sagen, es ist auch bei einem Kind ohne Einschränkung nicht alles möglich. Auch wir hören solche Sätze öfter.
    Nein, man kann es nicht vergleichen .... man müsste es nur spüren und verstehen. Ich weiss nicht ob Familien ohne Kind mit Einschränkung sich so hineinfühlen wie es Tag für Tag und Nacht für Nacht abläuft, dieses Leben, das so anders ist.
    Ich denke bei Henri ist noch weniger möglich. Seine Krankheiten sind so unfair. Schränken so sehr ein.
    Robert kommt nicht klar mit all den sozialen "Anforderungen" dieses Lebens hier in seiner Welt. Geistig versteht er viel tatsächlich nicht.
    Und dabei kann er so "gescheit daherreden",
    wie mein Papa immer sagte.

    Ich hab heute wieder einen Post veröffentlicht, der eine Situation zeigt die mir weh tut.
    Kein gutes Foto von Robert. Man kann ihm aber ansehen, wie traurig und hoffnungslos er innerlich ist.
    Er kann so weit verstehen, dass Susanne mit 17 schon Moped gefahren ist, und er nun auch das Alter hat. Er könnte fahren, was das technische betrifft. Das hat er schon abgeschaut. Er ist schon mal ins Auto, hat gestartet und fuhr los... das war ein Schreck. Wir lassen ihn kaum Rad fahren, weil er eben plötzlich mitten auf der Strasse fährt, oder die rote Ampel übersieht.
    Nun DARF er aber nicht Moped fahren. Je mehr es ihm bewusst wird desto trauriger und blasser wird er.
    Das sind die Momente, die Mamas und Papas mit in ein dunkles Tal reissen ... ich ahne, Du verstehst mich.
    Es ist schwer, es bleibt schwer.
    Und das was leichter sein könnte verhindert ganz oft die Gesellschaft, die Mitmenschen, die Vorschriften etc.
    liebe Grüsse
    Elisabeth

  • #4

    Sarah (Donnerstag, 26 April 2018 07:33)

    Ich finde das auch schwierig, wenn behauptet wird, eine geistige Behinderung würde überhaupt keinen Unterschied machen im Schul-/Gruppenumfeld, schließlich sei jeder anders, und es gäbe ja auch Kinder, die als einziges in der Klasse rote Haare hätten oder schlecht in Sport seien oder nicht so gut Mathe können.

    Ich finde, damit macht man sich etwas vor. Natürlich suchen sich Kinder in der Regel Freunde mit ähnlichen Interessen, mit denen sie sich unterhalten und denen sie z.B. auch Dinge anvertrauen können. Mit zunehmendem Alter geht die Schere zwischen Kindern mit und ohne geistiger Behinderung naturgemäß immer weiter auseinander. Im Kindergarten funktioniert das vielleicht noch, dass Kinder mit und ohne geistige Behinderung einfach so zusammen spielen, in der Grundschule wird es schon schwieriger, und spätestens ab dem Alter von 10/11 wird der Abstand einfach zu groß. Es macht eben doch einen Unterschied, ob Kinder alles in allem auf dem gleichen Entwicklungsstand sind, mit individuellen Stärken und Schwächen, oder ob ein Kind in jeder Hinsicht in seiner Entwicklung deutlich hintendran ist.

    Das heißt ja auch nicht, dass nicht behinderte Kinder ein geistig behindertes Kind nicht leiden können oder mobben oder absichtlich ausschließen. Sie werden trotzdem noch im Schulumfeld nett sein, aber sie haben einfach nicht genug gemeinsam, um wirklich befreundet zu sein. Und wie Du auch schriebst, man kann ihnen daraus auch keinen Vorwurf machen - wir nicht geistig behinderten Erwachsenen haben in aller Regel auch keine geistig behinderten Freunde. Weil (zumindest für mich) zu einer Freundschaft dazugehört, dass man über alles sprechen und diskutieren kann, sich gegenseitig auch mal Rat gibt, zu einem gewissen Grad auch in einer ähnlichen Lebenssituation ist mit ähnlichen Erlebnissen und Problemen (Arbeitsstress, im Studium Druck und Angst vor Klausuren z.B.). Auch wenn ein geistig behindertes Kind neben nicht behinderten Kindern auf ein Gymnasium geht, es wird in einer anderen Welt als die anderen Kinder leben - es hat nicht denselben Druck, wird nicht nach denselben Maßstäben benotet, wird sich nicht im selben Tempo entwickeln, zwischen Hausaufgabenstress, immer mehr selbständigen Unternehmungen allein mit Freunden und ohne Eltern und erster Freundin/erstem Freund.

    Natürlich ist das bitter - für die betroffenen Kinder und auch für die Eltern, die sich doch soviel "Normalität" wie möglich für ihr Kind wünschen. Aber eine geistige Behinderung setzt nunmal Grenzen, aus sich selbst heraus, nicht nur, weil die Gesellschaft sich Inklusion verweigert. Auch rein körperliche Behinderungen setzen Grenzen aus sich selbst heraus - nur ist es da so, dass diese mit wachsendem Alter oft eher weniger relevant sind. Ein Kind, das geistig normal entwickelt ist und "nur" körperliche Einschränkungen hat, kann vielleicht nicht genauso toben wie andere Kinder oder wird im Sportunterricht nicht die gleichen Übungen mitmachen können. Aber es kann (mit genug Unterstützung bei rein praktischen/logistischen Problemen) genau die gleichen intellektuellen und sozialen Entwicklungsschritte im gleichen Tempo mitmachen wie nicht behinderte Altersgenossen, später studieren usw.. Man kann auch im Rollstuhl ein guter Arzt sein oder mit Hörbehinderung ein guter Anwalt. Ein geistig behindertes Kind kann man unter dem Schlagwort "Inklusion" jahrelang jeden Tag zur Uni schicken, es wird nie wirklich studieren. Ich werde ja auch nicht zum Profifußballer, selbst wenn mich der FC Bayern formal in seine Mannschaft aufnehmen würde und ich jeden Tag beim Training nebenher laufen würde, einfach weil mir die Voraussetzungen und Fähigkeiten dafür fehlen.

    Ich finde es gut, dass heutzutage behinderte Kinder nicht mehr "versteckt" werden. Aber auch die beste Inklusion kann nichts an den Einschränkungen ändern, die mit der Behinderung an sich nun einmal einhergehen. Mein Eindruck ist, viele Eltern mit betroffenen Kindern verdrängen das, wahrscheinlich aus Selbstschutz.

    Ich hoffe, Du nimmst diesen Beitrag nicht übel. Er ist beim besten Willen nicht böse gemeint und ich kann alle Eltern verstehen, die sich aus ganzem Herzen wünschen, dass ihr Kind eben nicht nur "mittendrin" ist, sondern tatsächlich wirklich dazugehört. Aber ich glaube eben auch nicht, dass das etwas ist, das man erzwingen kann. Man kann dafür sorgen, dass in der Gesellschaft die Würde jedes Menschen geachtet wird, aber man kann eben nicht Freundschaften erzwingen oder Fähigkeiten, die wegen der Behinderung einfach nicht da sind.

    Viele Grüße
    Sarah

  • #5

    henri-mittendrin (Montag, 30 April 2018 17:28)

    Liebe Sarah, danke für deinen offenen und differenzierten Kommentar, den ich ich dir überhaupt nicht übel nehme! Das meiste, von dem, was du schreibst, entspricht ganz genau meinem Empfinden... besser hätte ich all meine Argumente für eine Förderschule nicht zusammenfassen können ;-). An dem Tag, als du deinen Kommentar geschrieben hast, hatte ich zuvor ein Gespräch mit einer Förderschullehrerin aus dem Bekanntenkreis und wegen des Vornamens dachte ich erst einmal, sie hätte diesen Kommentar geschrieben. Du scheinst dir nicht das erste Mal Gedanken über Inklusion gemacht zu haben - bist du auch als Förderlehrerin tätig? Jedenfalls schätze ich deine Gedanken und würde mich über weiteren Austausch freuen. Unser Leben ist aufgrund Henris schulischer Situation gerade sehr bewegt und ich sehne mich Zeiten entgegen, in denen wir noch einmal in etwas ruhigeres Fahrwasser kommen. Zuvor stehen jedoch Entscheidungen an und ich tue mich nicht leicht damit...

  • #6

    henri-mittendrin (Montag, 30 April 2018 17:56)

    Liebe Elisabeth, auch mit meiner Antwort auf deinen persönlichen "Erfahrungsbericht" hat es gedauert. Was du schreibst, ist erschütternd und (leider) kann ich vieles aus eigener schmerzhafter Erfahrung bestens nachvollziehen. Die Rolle, die die Schwestern spielen, sind ähnlich und ich verstehe deine Gedanken in deinem Blogeintrag "die Bikerin" nur zu gut. Wie auch Sarah oben schreibt, sind Behinderungen, wie sie ohne Söhne haben, nicht vergleichbar mit Besonderheiten wie "rote Haare" oder "unsportlich" - manchmal werde ich richtig sauer, wenn ich solche "Jedes-Kind-ist-anders-Statements" lese. Heute hat Henri wieder geweint, und wieder ging es um "beste Freunde" �. Auch wenn er Freundschaften, wie wir sie kennen, gar nicht pflegen könnte, spürt er doch, dass dass die anderen Kinder nicht unbedingt seine Nähe suchen. Letzte Woche hatten wir ein Gespräch in einer Förderschule: Die Schule war zu Ende und ein paar auf ihre Abholung wartende Kinder haben von außen durchs Fenster gesehen und mit Blicken und Winken Kontakt mit Henri aufgenommen. Er ist ans Fenster gegangen und es hat eine nonverbale Kommunikation begonnen, die sich dann später vor der Tür fortgesetzt hat. Das war so schön zu erleben! Ähnlich erging es uns vorgestern auf dem Down-Sportlerfestival in Frankfurt, auf das Henri sich jedes Jahr richtig freut. Henri mittendrin unter etwa 500 großen und kleinen Menschen mit Down-Syndrom - so fröhlich und ausgelassen!

  • #7

    Sarah (Donnerstag, 03 Mai 2018 07:35)

    Nein, ich bin keine Förderlehrerin und habe auch sonst überhaupt keinen pädagogischen Hintergrund, ich habe ganz was anderes studiert. Eigentlich habe ich auch sonst nicht wirklich Berührungspunkte mit Inklusion oder Behinderung - außer aus meiner eigenen Erfahrung als Schülerin. Wir hatten damals in den Schuljahren 9-11 (oder 7-11?) einen Autisten in der Klasse. Nach meiner Erinnerung zielgleich beschult (obwohl ich diese Begriffe damals natürlich nicht kannte, falls es sie überhaupt gab, jedenfalls hatte er zumindest in den Hauptfächern im Wesentlichen die gleichen Aufgaben), und mit Schulbegleiter in allen Stunden. Wir waren eine sehr kleine Klasse (rückblickend vermutlich auch deshalb) mit nur gut 15 Schülern. Und trotzdem - der Junge hat den Unterricht gesprengt. Nicht, weil er ständig Ausraster gehabt hätte (die hatte er auch manchmal, dann ging der Schulbegleiter mit ihm raus), sondern einfach, weil er nicht normal am Unterricht teilnehmen konnte. Er hatte oft die Hausaufgaben nicht erledigt, der Lehrer versuchte dann bestimmt 10 Minuten lang, ihn dazu zu bewegen, es zumindest mal zu versuchen, und das dauerte. Wir hatten ihn alle gern, aber irgendwann wurde es zum Problem. Eben weil es einen Schüler gab, der in einer 15er-Klasse nicht 1/15 der Zeit des Lehrers in Anspruch nahm, sondern bestimmt 1/3. Da half auch der Schulbegleiter nichts.

    Ich will mir nicht vorstellen, wie heutzutage "inklusiver Unterricht" aussieht mit Klassen von 28 Kindern, davon mehreren zieldifferent unterrichteten, die nur ein paar Stunden die Woche einen Schulbegleiter haben. Wie soll das gehen? Wie sollen da alle anderen Kinder noch was lernen? Und wie soll das behinderte Kind da die Menge an Aufmerksamkeit und geeigneter Förderung bekommen, die es braucht? Rückblickend hatten wir damals geradezu paradiesische Zustände im Vergleich mit heutiger Inklusion - und trotzdem war es für die Klasse auf Dauer kaum tragbar, weil alle anderen Kinder darunter litten. Daran denke ich oft zurück, wenn ich heute Artikel von Inklusionsbefürwortern lese und von Eltern wie dem Namensvetter von Eurem Henri, die der Meinung sind, man muss nur wollen, dann klappt das schon, und wer anderer Meinung ist, ist behindertenfeindlich.

    Ich habe selbst erlebt, wie schwierig das ist, trotz guten Willens bei allen Beteiligten, und das waren noch vergleichsweise gute Bedingungen und ein vergleichsweise "fitter" Autist. Und auch da war es so, dass wir ihn schon irgendwie mochten und er auch zur Klasse dazugehörte, aber echte Freunde hatte er nicht. Dafür fehlten einfach die gemeinsamen Interessen und ein vergleichbarer Entwicklungsstand (obwohl er kognitiv sogar größtenteils mithalten konnte, aber das reicht eben nicht für soziale Kontakte).

  • #8

    Sarah (Donnerstag, 03 Mai 2018 07:36)

    ... Fortsetzung :-)

    Ich verstehe nicht, warum Eltern von geistig behinderten Kindern unbedingt nicht behinderte Freunde und ein komplett nicht behindertes Umfeld für ihr Kind wollen. Wahrscheinlich wird das Kind mit Kindern, die ähnlich/ähnlich stark behindert sind, oft viel leichter eine Bindung aufbauen, einfach weil mehr Gemeinsamkeiten da sind. Umgekehrt merkt es (zumindest, wenn es einen gewissen Grad an Einsichtsfähigkeit hat) sehr deutlich, dass es in vielen Dingen anders ist als nichtbehinderte Kinder. Wenn ich mir vorstelle, ich müsste ständig mit Leuten zusammen sein, die alles viel besser können als ich, denen Dinge leicht fallen, die ich nie schaffen werde, die immer mehr lernen und dürfen als ich, ich wäre immer die Langsamste und die Schlechteste in allen möglichen Aufgaben, das muss doch so frustrierend sein, auch für die Kinder.

    Ich war immer eher das umgekehrte Extrem, ein ziemlicher Überflieger - nicht sozial auffällig, ich habe mich einfach nur SEHR viel leichter getan als alle anderen in der Schule. Inzwischen weiß ich das zu schätzen, aber ich bin immer schon aufgewachsen mit dem Gefühl "anders" zu sein, nicht so richtig dazuzugehören - und das, obwohl ich immer Freunde hatte. Trotzdem, innen drin habe ich gespürt, dass ich "anders" bin, ohne das so genau benennen zu können. Ich habe vor kurzem bei meinen Eltern alte Tagebücher gefunden - ich habe in der zweiten Klasse angefangen, fehlerfrei Tagebuch zu schreiben. In der fünften Klasse, im ersten Jahr Englischunterricht, dann auf Englisch, auch ziemlich fehlerfrei. Mir wurde jetzt erst klar, WIE ungewöhnlich das eigentlich ist. Im Studium war ich dann von Überfliegern umgeben, und plötzlich gab es auch mal Leute, die besser waren als ich. Für mich war das eine enorme Erleichterung, endlich nicht mehr aus dem Rahmen zu fallen und mit Leuten zusammen zu sein, die ähnlich schnell denken wie ich. Zu Schulzeiten war das immer eine Mischung aus dem Gefühl, einerseits irgendwie anders zu sein als die anderen, andererseits kannte ich es ja aber auch gar nicht anders, für MICH war es ja normal, so zu sein wie ich eben war. Und ich hatte noch das Glück, am hochbegabten Ende der Skala zu sein. Ich habe zwar immer gespürt, dass ich irgendwie anders bin, aber habe auch als Kind schon gemerkt, dass es seine Vorteile hat, immer gute Noten zu haben, ohne lernen zu müssen. Wie frustrierend muss es sein, zu spüren, dass man anders ist, ohne diese Vorteile?

    Ich will damit nur sagen, jedes Kind, wahrscheinlich sogar jeder Mensch, sucht nach Gemeinsamkeiten und fühlt sich langfristig am wohlsten in einem Umfeld mit anderen, die ihm ähnlich sind - ähnliche Interessen, ähnlicher Entwicklungsstand, ähnliche Probleme. Klar, nur weil zwei Kinder Down-Syndrom haben, werden sie nicht automatisch beste Freunde, aber sie sind vielleicht zumindest eher auf einem ähnlichen Entwicklungsstand. Klar, auch nicht geistig Behinderte machen in einer Gruppe mit Leuten, die besser sind als sie selbst, eventuell schneller Fortschritte, weil man "mitgezogen" wird. Aber das passiert immer nur in einem gewissen Rahmen. In einem Umfeld zu sein, wo alle anderen alles ständig deutlich besser können als man selbst und man schlicht keine Chance hat, da jemals ranzukommen, muss unglaublich frustrierend sein. Sobald eine gewisse Einsichtsfähigkeit da ist, wirkt das doch eher resignierend als motivierend. Wenn ich in einer Sportgruppe mitmache, die etwas besser ist als ich selbst, werde ich da wahrscheinlich schneller mehr lernen als in einer Gruppe mit Leuten, die schlechter sind als ich selbst. Wenn ich aber in eine Profigruppe mit Leuten gesteckt werde, die gerade für Olympia trainieren, ist der Abstand so groß, dass es einfach nichts bringt und mich nur frustriert, weil ich sowieso keine Chance habe, egal wieviel ich übe, und weil deren Training für mein Level nicht geeignet ist.

    Ich glaube, Kinder mit geistiger Behinderung profitieren viel mehr davon, wenn sie eine Förderung bekommen, die für ihr Level zugeschnitten ist, als wenn man sie blind in eine Regelklasse steckt in der Hoffnung, dass sie sich da was "abschauen". Es stimmt auch einfach nicht, dass die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, dass jedes Kind in jede beliebige Schule gehen können muss - es geht darum, dass behinderte Kinder ihrer Behinderung angemessene schulische Bildung bekommen. In vielen Ländern der Welt wären die Leute froh über ein Förderschulsystem, wie Deutschland es hat/hatte - eben weil es in vielen Fällen für sehr viel bessere, zielgerichtetere Förderung sorgt als einfach nur geistig behinderte Kinder in Regelklassen zu setzen.

    Ich drücke Euch die Daumen, dass Ihr für Euren Henri eine gute Lösung findet!