Nicht nur eine Schrecksekunde

Es war mehr als nur eine Schrecksekunde gestern im Luisenpark.

Schon seit Jahren macht Henri auf Spielplätzen einen großen Bogen um diese Stangen, an denen man von einem Klettergerüst aus mehr oder weniger großer Höhe nach unten rutschen kann. Weil ich selbst einen ziemlichem Respekt davor habe (man muss den festen Boden unter den Füßen für einen klitzekleinen Moment loslassen und darauf vertrauen, dass die Kraft in Armen und Beinen ihn ersetzt), hatte ich bisher auch nie versucht, Henri dazu zu überreden. Gestern nun stellte er sich in der Schlang an und, obwohl mir nicht besonders wohl dabei war, habe ich ihn in seinem gefassten Mut bestärkt. Oben angekommen hat er kurz gezögert, andere Kinder vorgelassen, hat losgelassen und ist sicher "gelandet". Es war für ihn wohl ein mindestens genauso erhebendes Erlebnis wie für mich - er hat es geschafft! Menschen, die die Szene beobachtet hatten, haben ihm applaudiert... Verständlich, dass er dieses Glücksgefühl wiederholen wollte.

Beim zweiten Mal zögert er sehr viel länger ... tritt vor und zurück... ich kann nicht...  lässt andere Kinder vor, schreit immer wieder, wir sollten weggehen: Papa, weg! ... ganz weg... So geht das eine ganze Weile... Wie könnte ich in diesem Moment sagen, dass er am besten wieder nach unten klettern soll!?! Ich bestärke ihn weiterhin, freue mich auf ein weiteres Erfolgserlebnis und irgendwann überwindet er seine Furcht und lässt los. Dabei "vergisst" er die Beine, hält sich nur mit den Händen, und das auch nicht besonders geschickt... Mit einem kurzen Aufschrei  landet zwar auf beiden Füßen, aber solo schnell ist vermutlich noch keiner diese Stange runtergerutscht, es war eher ein leicht abgebremster freier Fall. Danach ist er einige Sekunden wie versteinert, wendet sich ab und zieht sich zurück, beginnt dann laut zu schreien ... alle böse!!! schreit er, zieht seine Schuhe aus und wirft sie, so weit er kannWir lassen ihn gewähren, in diesem Zustand ist jeder Versuch einer Annäherung zwecklos und verärgert ihn nur noch mehr. Als ich mich hinsetze, kommt eine Einkindmama auf mich zu ... Helikopter ! ... Dabei hat er es beim ersten Mal so gut gekonnt ... und macht mich mit ihrem schlauen Kommentar noch sprachloser und erst im Nachhinein ärgerlich. Helikopter? Hätte ich ihr die Möglichkeit gegeben und mich nicht abgewendet, hätte sie mir sicher eins zu eins weitergegeben, was sie bei Eltern  gelesen oder im Starke-Kinder-Eltern-Seminar gelernt hat. Woher soll sie auch wissen, dass drei unserer Kinder diese Stangen von Anfang an genauso gut und sicher wie ihr Sohn gerutscht sind?Für diese Mutter war die Lage offensichtlich ganz klar: Helikopter-Mama bremst ihr behindertes Kind aus.  Mir fällt der Kurzfilm ein, den ich mir selbst immer wieder vor Augen halte, wenn ich dazu neige, jemanden zu be- oder gar verurteilen. Was wisst ihr denn eigentlich davon? 

Irgendwann setzt sich Henri zurück in unsere Nähe und beginnt laut zu schluchzen. Mit etwas Abstand knie ich mich vor ihn hin und bin froh, dass er die Nähe zulässt. Dann bricht es aus ihm heraus: Ich will nicht Krankenhaus ... ich will nicht Krankenwagen ... ich will nicht sterben...  Ruhig antworte ich ihm, dass er nicht ins Krankenhaus und auch nicht sterben muss. Dann schlage ich ihm vor, dass er es - nur, wenn er möchte - an einer kleineren Stange nochmals versuchen kann. Sofort erhellen sich seine Züge und er fragt Wooo??? Also gehen wir zusammen zu einem kleineren  Kletterhaus, wo Henri zweimal rutscht.  Zuvor jedoch wiederholt er, was er  mir ein paar Minuten zuvor unter lautem Schluchzen gesagt hatte...  Ich will nicht Krankenwagen  und ergänzt Ich will nicht Spritze, ich will nicht Infusion... Ich nehme ihn ganz fest in den Arm und versichere ihm , dass kein Krankenwagen kommt, er nicht ins Krankenhaus muss und auch keine keine Spritze bekommt... und dann fragt er sehr ernst Und sterben? ... Sterben auch nicht, du kannst ruhig rutschen. Dann rutscht er wieder, diesmal die kleine Stange hinab, zaghaft und aus der Hocke heraus. Und ich bin froh, dass dieser Vorfall ihm den Mut nicht genommen hat.   

 

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Steffi (Dienstag, 22 August 2017 22:25)

    Ist es der Luisenpark in Mannheim?
    Henry ist wirklich mutig, dieses Spielgerät mit den zwei Stangen auszuprobieren
    und (wenn auch nur einmal) zu "bezwingen". Sehr gute Leitung :)
    Ich würde das niemals hinkriegen!

  • #2

    henri-mittendrin (Dienstag, 22 August 2017 22:46)

    Ja, Steffi - er ist der Luisenpark in Mannheim. Wir sind relativ oft und zu allen Jahreszeiten dort, weil es allen gefällt (und keiner motzt ;-). Mir kommen die Stunden dort immer wie eine Art Kurzurlaub vor. Was die Stangen betrifft, geht es mir wie dir: Ich habe mich getraut und konnte von daher Henris Furcht gut verstehen... umso mehr habe ich mich gefreut, dass er es wagen wollte. Und wenn es ihn nächstes Mal wieder dahin zieht, werde ich ihn nicht bremsen (mit klopfendem Herzen).