Gleichgewicht

In letzter Zeit fehlt es oft, das Gleichgewicht... nicht nur das innere. Wo ich auch hinsehe: Etwas mehr Ausgewogenheit täte allen gut - eine Herausforderung, weil vieles miteinander verwoben ist und Wechselwirkungen in alle Richtungen die Sache nicht einfacher machen.

In der Schule zum Beispiel war es die vergangene Woche anstrengend, für alle Beteiligten. Henris zeitweilig unausgeglichene Stimmung, ein paar Ausreißer und -raster haben auch zu Hause nachgewirkt. Dass Henris Integrationshelferin wegen einer OP eine Woche ausfallen würde, war schon lange bekannt. Ich würde es mir ja anders wünschen, aber wieder einmal hat sich gezeigt, dass eine Integrationshilfe kein Luxus, sondern tatsächlich notwendig ist. Obwohl (oder vielmehr: weil) es eine Vertretung gab, die sich um das Böckchen bemüht hat, hatte es den Anschein, als müssten plötzlich alle Regeln  neu verhandelt werden. Dass man während des Unterrichts im Klassenraum bleibt und nicht vor der Tür. Dass man auf dem Stuhl und nicht auf dem Schoß der I-helferin sitzt. Dass Trinkflaschen nicht in die Ecke und Jacken nicht in die Mülltonne geworfen werden... auch wenn man gerade enttäuscht ist, weil eine Entscheidung nicht so ausgefallen ist, wie man es sich gewünscht hat. Auch wenn er nicht immer "mitläuft" scheint man ihm in der Schule wohlgesonnen zu sein. Vor allem die Kinder nehmen ihn anscheinend so wie er ist und auf seine Mädels (eine Gruppe von Mädchen, mit denen er  sich besonders verbunden fühlt; in eine scheint er gar verliebt zu sein ...) kann er sich immer verlassen. Oft bekommt er mit ihrer Hilfe die Kurve, wenn die Situation aussichtslos verfahren scheint - zum Beispiel, wenn er vor der Klasse sitzt. Am Ende von Tag zwei habe ich ihm mangels Alternativen angedroht, er bekäme an Tag drei keine Fahne, wenn die I-helferin wieder von Extra-Touren und Kapriolen berichten würde. Leider kam es tatsächlich  dazu, dass die Fahne einen Tag lang nicht ausgeführt werden durfte. Interessant war, dass Henri die Entscheidung direkt und ohne jede Diskussion akzeptierte - als hätte er darauf gewartet. Als ich seine "Donnerstag-wieder Fahne?-Frage bejahte, war er zufrieden. Jedoch wusste er sich auch an dem fahnenlosen Tag zu helfen ;-)  Schon auf der Heimfahrt von der Schule  hat er die ganze Zeit von einem Teil gesprochen, mit Händen und Füßen erklärt, aber weder Amelie noch ich wussten, was er da mit so viel Engagement beschreibt. Zu Hause ging er  direkt in den Keller, zog die Spielen-draußen-Kiste aus dem Regal und nahm eine Art Windspiel heraus, das ihm in Spanien ein netter Holländer (er kennt in Holland auch einen Mann mit Down-Syndrom ;-) geschenkt hatte und schon lange nicht mehr in Gebrauch war. Da es sich definitiv nicht um eine Fahne handelt, habe ich es es nicht übers Herz gebracht, ihm das Teil wegzunehmen und war sogar dankbar, dass er über diesen Umweg für eine ähnliche Art der Entpannung gesorgt hatte. 

8. Juni 2016:

Henri weiß sich zu helfen, wenn die Fahne einen Tag drinnen bleiben muss.

 

In letzter Zeit kann man Henri beim Wachsen regelrecht zusehen - er ist jetzt definitiv kein 140-er mehr. Und so wie es vor 10 Jahren eine Umstellung war, dass er nach gefühlten zwei Jahren Schuhgröße 19 plötzlich größere Schuhe brauchte (nur zum Schutz der Füße, laufen lernte er erst mit fünf), finde ich es heute unglaublich, dass der kleine Henri nun eine Teenie-Größe hat. Es sind aber nicht nur die Beine -  in letzter Zeit vollziehen sich noch andere, vielschichtigere Verwandlungen. Immer noch lacht Henri viel und schüttelt die Ärmchen, wenn er er sich besonders freut. Aber auch eine andere Seite wird langsam sichtbar - nachdenklich und sich selbst betrachtend. Als Henri noch ein Kleinkind war, habe ich mich oft gefragt, ob die älteren Kinder denn wissen, dass sie behindert sind. (Ja, ich benutze diesen Begriff behindert nach wie vor, empfinde ihn nicht dikriminierend und habe auch nicht die Mein-Kind- ist-nicht- es-WIRD-behindert-Anschauung. Schon länger beobachte ich, dass Henri sich mit geistiger Behinderung eher schwertut. Als bei einem Klassenspiel vor uns eine Gruppe aus einem Wohnheim saß, hatte er die Vokabel behindert direkt parat. Er findet es nicht schön, wenn Menschen den Mund offenstehen haben und achtet in bewussten Augenblicken sehr darauf, dass seine Zunge im Mund ist und nicht heraushängt. Wenn er ganz in seiner eigenen Welt oder müde ist oder sich besonderes anstrengt, kommt sie natürlich raus. Letzte Woche sagte er im Auto wie aus heiterem Himmel zu mir: Ich bin nicht behindert, ich bin bald vierzehn. So klar und grammatikalisch perfekt, was bei Henri aufgrund seiner Sprachbehinderung immer noch etwas Besonderes ist.

 

Angesichts Henris Alters ist es nicht verwunderlich, dass sich nun auch der Begriff Pubertät mit Leben füllt. Henri ist das erste unserer Kinder, das eindeutig pubertäres Verhalten zeigt. Bei unseren Großen verlief diese Phase fast unbemerkt - von großen Dramen sind wir (und wohl auch die Kinder) weitgehend verschont geblieben. Nun dürfen wir endlich Erfahrungen machen, die in den meisten Familien dazugehören ;-) Und zwar nicht einfach, sondern gleich doppelt, denn auch Amelie steht bereits in den Startlöchern und bringt uns regelmäßig und kraftvoll mehr an unsere Grenzen als die Großen es je vermocht haben ... von Jahresarbeiten einmal abgesehen... die waren IMMER ein Drama, ein Familiendrama.

 

Und jetzt noch ein paar Fotos von Ausflügen und Wanderungen... Ein großes Highlight, das diesjährige Down-Sportlerfestival, kommt im nächsten Blogeintrag. 

9. Juni 2016 - Tag der Schulmusik auf dem Halberg

Beim Chorauftritt der großen Rundadinella-Kinder war Henri Zuschauer. Rechts unten sieht man den nachdenklichen Henri.

 

 

8. Mai 2016

Wie im Urlaub: Frühjährlicher Ausflug ins Karlstal

 

 

5. Mai 2016

Schlossberg-Tour bei allerschönstem Himmelfahrtswetter ... mit Marie :-)

 

 

5. Mai 2016

Wrapped Around Your Finger

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Kommentare: 2
  • #1

    wollwesen (Samstag, 11 Juni 2016 22:06)

    Ja, das Heranreifen zum Teenager ist auch in diesen Fotos gut sichtbar....
    Ich musste schmunzeln, über die Beschreibung des Böckchens, da wir heute zum Geburtstag meiner Freundin eingeladen waren, deren Sohn auch das Down-Syndrom hat. Dort war auch viel von der angehenden Pubertät spürbar (er ist wohl damit etwas früher dabei; vor einigen Tagen erst 12 geworden.)
    Und vor einiger Zeit erzählte er uns etwas konsterniert, dass sein Pate an der neuen Schule "behindert" sei.
    Immerwieder verblüfft mich, wie schnell irgendwelche heftigen Gefühlsanwandlungen von jetzt auf nachher wieder umschlagen, sowohl ins Positive, wie auch ins Negative.

    Eure Familienbilder zaubern mir aufs Neue ein Lächeln ins Gesicht, da so viel Wärme davon ausstrahlt!

    Liebe Grüße, Helga

  • #2

    www.henri-mittendrin.de (Sonntag, 12 Juni 2016 14:20)

    Liebe Helga, genauso ist es ... von jetzt auf gleich kann sich die Stimmung ins Gegenteil wenden. Für mich jedes Mal wie "aus heiterem Himmel" - aber wahrscheinlich bekommen wir den Übergang und was sich in diesen Momenten in den Köpfen und Herzen unserer Kinder abspielt, nur nicht mit. Liebe Grüße in den Schwarzwald und euch einen schönen Sonntag!