Durchgekämpft

Durchgekämpft


(Barbara Kaufmann in : NZZ.at - https://nzz.at/s/PVORv-l4QO-1)

 

Im Wartezimmer der Frauenärztin flackert der Bildschirm. Das Video über die segensbringende Wirkung von Akupunktur sieht aus, als wäre es Teil eines radikalen Kunstprojektes. Ich stehe auf und setze mich mit dem Rücken zum Monitor. Das Letzte, was frau beim Gynäkologen will, ist, Teil eines Installationskunstprojekts zu sein. Eine andere Patientin betritt den Raum. Sie ist groß, etwa Mitte 40, schlank, und trägt weite, bunte Kleidung. Jene Art von bunter Kleidung, die Entspanntheit vermittelt. Sie grüßt freundlich und nimmt in Sichtweit des Bildschirms Platz. Innerlich zähle ich mit. 21, 22, 23. „Puh, das nervt.“ Sie setzt sich neben mich.

Aus der Nähe ist sie mir noch sympathischer. Feine Linien ziehen sich um ihre Lippen, die zeigen, dass sie gerne lacht. Ihre großen Augen blitzen vergnügt, wenn sie spricht. Sie kommt gerne in die Praxis. Die Ärztin hat die Geburt ihres Sohnes begleitet. Sie zieht ihr Handy hervor und zeigt mir Bilder. Bilder von Philipp, 3, beim Fußballspielen, beim Malen, beim Eisessen. Ein fröhlicher blonder Junge, er lacht auf jedem Foto. Er ist ein Downie. Aber man sieht’s gar nicht, gell?! Die Frage kommt freimütig, ohne Unterton. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich sehe ein fröhliches Kind, das auf den Bildern in die Welt lacht, so sehr, dass man als Betrachterin nicht anders kann als automatisch zurückzulächeln.

Sie ist 41, als sie schwanger wird. Eine Risikoschwangerschaft. Das ist sie aber eh bei jeder in dem Alter. Sie arbeitet damals im Finanzwesen. Risiko ist ein Begriff, den sie ernst nimmt. Also macht sie alles. Screenings, Fruchtwasseruntersuchung, alle Befunde sind unauffällig. Als Philipp zur Welt kommt und klar ist, er hat Trisomie 21, ist ihr erstes Gefühl Stolz. Ich hab mir gedacht, du hast dich durchgekämpft, durch all die Tests und an allem vorbei, du kluger Kerl. Das hast du gut gemacht. Seit seiner Geburt ist alles anders. Sie ist nun selbstständig, ist umgezogen, hat ihr ganzes Leben umgestellt. In ihrem Kalender ist ein Lesezeichen mit Philipps Bild. Darunter steht: Unterschätzt mich nicht!

Später frage ich die Ärztin, ob Trisomie 21 und das Alter der Mutter bei der Geburt wirklich zusammenhängen. Im selben Moment weiß ich, ich will die Antwort gar nicht wissen. „Das sind die Kinder, die niemand haben will. Die werden fast ohne Ausnahme entfernt, wenn man vorher draufkommt.“ Ihre Stimme klingt schwer. Sie wirkt hilflos.

Nach meinem Termin ist Philipps Mutter an der Reihe. Wir treffen uns vor der Tür der Ärztin. Sie verabschiedet sich herzlich. Ihre bunte weite Hose flattert beim Gehen. Wir sind ständig auf der Suche, denk ich mir. Nach Sicherheit, Gewissheit, Kalkulierbarkeit. Wer weiß, was wir uns durch diese Suche nehmen. Welchen Teil von uns wir dadurch nie kennenlernen werden. Um welche Erfahrungen wir uns bringen. Ich weiß nicht, was Philipps Mutter gesucht hat. Aber sie sieht aus, als hätte sie es gefunden.

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