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Weil mir die Worte zum Sprechen fehlen...

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...schreibe ich. Für die, die uns gut kennen und Fragen haben, für die LeserInnen dieses Blogs und nicht zuletzt auch für mich.

Nachdem alle Voruntersuchungen für eine mögliche Operation gelaufen waren, hat sich der Chefarzt gestern viel Zeit für ein Gespräch genommen. Er hat erklärt, warum eine Operation nicht nur sinnvoll, sondern seiner Einschätzung nach erforderlich ist. Die Kyphose (Krümmung der Wirbelsäule) ist so stark, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Krankheit nicht mehr nur äußerlich erkennbar ist, sondern Beschwerden macht. Patienten mit dieser Ausprägung bekommen nicht nur Schmerzen - es besteht auch die Gefahr, dass das Atmen immer schwieriger wird und die Sauerstoffsättigung abfällt. Sauerstoffsättigung - damit wird der Sauerstoffgehalt im Blut bezeichnet, er liegt  bei einem gesunden Menschen um die 100 %. Auf dem Foto unten, das Dirk  einen Tag vor der ersten großen Herzoperation  aufgenommen hat, hatte Henri eine Sättigung zwischen 40 und 50 %, teilweise fiel sie bis auf 35 % ab. Nun liegt sie zwischen 95 und 99 % - die ersten neun Monate hätte ich mir nicht vorstellen können, einmal eine solche Zahl auf dem Monitor zu sehen. Die Herzchirurgen haben Henri mit ihrer Kunst ein neues Leben geschenkt.

Wenn wir uns zu einer Operation entschließen, schaffen wir die Möglichkeit, den beschriebenen Gefahren zuvorzukommen. Man könnte nun den Gedanken haben, ob man nicht vielleicht abwarten könnte,  wie die Situation sich entwickelt - ich hatte ihn jedenfalls. Klare Absage des Arztes: Wenn die Symptome da sind, ist es zu spät für eine Operation.

Was für eine rasanter Verlauf! Schon vor Jahren war mir Henris runder Rücken aufgefallen, zunächst hielt ich es "nur" für einen Haltungsfehler, hatte aber dennoch immer wieder ein ungutes Gefühl. Im April 2016 war ich mit Henri zum Kid-Check, einem allgemeinen Screening, das die Universität des Saarlandes in Zusammenarbeit mit hiesigen Orthopädie  für Kinder und Jugendliche  angeboten hat. Unser Kinderarzt war bis zuletzt von einer muskulären Schwäche ausgegangen und ich hoffte, dass die Orthopäden dort diese Einschätzung bestätigen. Nach diesem Check habe ich eine Sorge weniger, stellte ich mir vor. In dem Moment, als gleich der erste Arzt Morbus Scheuerman, das wissen Sie? sagte, wusste ich gar nichts. Wir beachten erstmals einen niedergelassenen Orthopäden und Henri bekam zunächst einmal wöchentlich Physiotherapie, mehr könne man nicht machen, war die allgemeine Meinung. Im Internet fand ich insofern Bestätigung für diese Aussage, als überall geschrieben steht, dass ein Morbus Scheuermann nur in extrem seltenen Fällen operiert wird. Der damalige Orthopäde sagte uns, er könne leider nicht regelmäßig Physiotherapie aufschreiben (Budget!), man  solle die Krankheit aber später bei der Berufswahl berücksichtigen. Nicht alle Berufe seien für Henri geeignet ...   Immer noch dachte ich, dass es so schlimm nicht sein könne. Nun waren es ja schon zwei Orthopäden, die als "Behandlung" von geeigneten Sportarten und Physiotherapie gesprochen hatte. Es vergingen eineinhalb Jahre bis jemand aus meinem privaten (!) Umfeld die Idee hatte, es mit einem Korsett zu versuchen. Mit Hilfe des Kinderarztes und einer ihm bekannten Kinderorthopädin aus Hannover wurde sie umgesetzt. Ein halbes Jahr hat Henri das Korsett Tag und Nacht getragen - diszipliniert, wie man ihn kennt. Anfang des Jahres durfte er es dann für immer ausziehen - wir hatten in der hiesigen Kinderorthopädie einen neuen Kinderorthopäden gefunden, der klare Worte fand: Der Rücken ist fixiert, ein Korsett bringt nichts mehr. Am gleichen Tag spricht der Kinderorthopäde erstmals von einer möglichen Operation. Heute - nur  ein halbes Jahr später -  ist die Operation alternativlos. 

Es ist eine schwere und lange Operation - ihr Risiko nicht mit dem einer Skoliose-OP zu vergleichen. Ich muss das schreiben, um Kommentaren wie Ein Bekannter hatte auch eine OP am Rücken, das ist heutzutage Routine... oder Ich kenne jemanden, der hat auch einen Morbus Scheuermann, aber der muss nicht operiert werden... vorzubeugen. Solche wahrscheinlich gutgemeinten, aber wenig bedachten Äußerungen haben mir insbesondere vor Henris erster großer Herzoperation sehr zugesetzt. Es wird bluten bei dieser Operation und darin liegt das größte Risiko: Es ist weniger die Verletzung des Rückenmarks als vielmehr die Möglichkeit, dass es unter der Operation zu wenig mit Blut versorgt wird. Solche Operation finden unter einem durchgehenden Neuromonitoring statt, damit bei ersten Anzeichen einer Reizleitungsstörung umgehend reagiert werden kann - gegebenenfalls muss die Operation abgebrochen werden. Es fällt mir unendlich schwer, die Gefahr beim Namen zu nennen. Das Risiko einer Querschnittslähmung liegt bei dieser Art von OP bei 0,5 % (ob es bei Henri aufgrund des allgemein erhöhten Operationsrisikos noch höher liegt, habe ich nicht zu fragen gewagt). Im Vergleich dazu liege das Risiko bei einer Skoliose-OP bei 0,1 Promille... sagte uns der Arzt ... und: Sie müssen wissen, worauf sie sich einlassen. Die Art von Frage, die Ärzten in solchen Entscheidungssituationen gerne gestellt wird, hat er klar beantwortet: Wie würden Sie entscheiden, wenn es Ihr Sohn wäre? Ja, er würde ihn operieren lassen. 

Zum ersten Mal, seit Henri bei uns ist, habe ich den Gedanken, ihm etwas abnehmen zu wollen - wenn ich nur könnte. Es wäre aufwendiger, meinen Beruf auszuüben, aber es wäre machbar. Vermutlich würde ich mehr lesen (und dafür ein bisschen weniger aufräumen ;-). Ich würde mein Training im Fitnessstudio durch neue Arten von Sport ersetzen und mich am Abend ins Auto setzten und  wie bisher Freunde oder auch Mitbetroffene zu treffen. Der Austausch in der digitalen Welt hätte keinerlei Einschränkungen.

Ich stelle mir vor, dass Henri es in dieser Situation ungleich schwerer hätte. Einen großen Anteil seiner Lebensfreude hat er seinen Beinen zu verdanken. Sie geben ihm die Möglichkeit, das zu tun, was ihn glücklich macht  - und zwar ohne Unterstützung. Henris schönste Momente finden draußen statt: Im Wald und im Wiesental spazieren zu gehen oder seine Fahne im Wind flattern zu sehen macht ihn glücklich. Dass er seit einiger Zeit ohne Begleitung mit Juri eine Runde durchs Baugebiet gehen darf, macht ihn stolz. 

 

So, ihr Lieben - nun ist es raus, was mir gestern den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Um ihn wiederzubekommen, strecke ich die Fühler in verschiedene Richtungen aus. Es muss weitergehen - irgendwie.

 

Es liegt nun an uns, die Klinik wegen eines OP-Termins zu kontaktieren. Der Zeitrahmen, bis es so weit sein könnte, liegt bei etwa sechs Monaten. Was unsere Rolle als Eltern betrifft, gibt es einen großen Unterschied zu der Zeit vor der ersten großen Herzoperation. Henri war damals so krank, dass die ebenfalls sehr schwere und gleichwohl riskante Herz-OP seine einzige Chance zum Überleben war. Wir hatten keine Wahl - die Verweigerung der Zustimmung wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Jetzt dagegen geht es um eine Gefahr, die nicht akut - wenngleich völlig real - ist. 

 

Für das erhöhte Gamma-GT wurde noch keine Erklärung gefunden. Wir sollen den Wert vor Ort kontrollieren lassen.

 

 

 

 

1. Juni 2003

Tag vor der großen Korrektur-OP am offenen Herzen

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Kommentare: 2
  • #1

    Gabriela (Mittwoch, 26 September 2018 07:39)

    Liebe Doris, ich lese alldies erst heute, habe mich offenbar durch die Strandbilder täuschen lassen. Es sind mehr als 10 Tage vergangen, seitdem du diesen schweren, neuen, inneren Konflikt geschildert hast. Wie geht es euch heute damit? Es ist schon sehr beeindrucken oder bedrückend zu sehen, wie ihr immer wieder mit der ähnlichen Entscheidungsfrage konfrontiert seid, wie diese Unplanbarkeit des Lebens euch immer wieder schüttelt wie ein Hurrikan. Und verrückt, wie anderes eine 0,1 wirkt, je nachdem, ob sie als Risiko oder als Chance genannt wird.
    Ich wünsche euch Mut und Kraft und gute gemeinsame Gespräche auf dem Weg der Entscheidungsfindung.
    Herzliche Grüsse
    Gabriela

  • #2

    henri-mittendrin (Donnerstag, 04 Oktober 2018 10:27)

    Liebe Gabriela,

    danke für deine Zeilen und deine guten Wünsche! Die erste Schockphase haben wir wohl überwunden - es geht nun wieder einmal darum, anzunehmen und das Beste daraus zu machen - für Henri.