"Warum soll Henri aufs Gymnasium ...

wenn selbst seine Mutter sagt, dass er wahrscheinlich nicht einmal den Hauptschulabschluss schafft?"

Diesen Kommentar ohne Anrede und Gruß hat mir jemand über das Kontaktformular geschickt.

Erst einmal möchte ich, um weiteren Missverständnissen vorzubeugen, klarstellen: Unser Sohn heißt ebenfalls Henri und ist wie sein Namensvetter 11 Jahre alt. Unser Henri besucht jedoch eine Montessorischule und hat mit dem Schulwechsel noch ein gutes Jahr Zeit ... die wir nutzen werden, um ihm auch weiterhin eine so gute Schulzeit zu ermöglichen, wie er sie derzeit hat. 

Ich weiß nicht, warum Henri auf's Gymnasium "soll", denn ich kenne die Familie nicht persönlich. Vermutlich gibt es Parallelen zu unseren Erfahrungen. Unser Henri ist nach zwei Jahren Integration an einer Grundschule an die Montessorischule gewechselt. Nicht etwa, weil die Integration gescheitert wäre, im Gegenteil: Henri hat sich an dieser Schule sehr wohlgefühlt und ich war immer wieder erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit er im Klassenverband integriert wurde. Die Lehrer, die ihn unterrichtet haben, hatten zwar kaum Erfahrung mit behinderten Kindern, aber sie standen dem neuen Projekt sehr offen und mit viel Engagement gegenüber. Auch seine beiden Integrationshelferinnen waren mit viel Herzblut bei der Sache und die Entscheidung, ihn auf eine andere Schule zu schicken, ist uns nicht leicht gefallen. Allerdings erschien uns das Montessoriprinzip gerade für Henri als gute Alternative zum Staatschulsystem - wir hatten in Henris Vorschulzeit auch schon gute Erfahrungen mit einer Montessoritherapie gemacht. Auch der Wunsch, dass Henri nach der Grundschulzeit auf eine weiterführende Montessorischule gehen könnte, spielte eine Rolle. Die Voraussetzungen zum Wechsel sind natürlich besser, wenn das Kind mit der Art zu lernen schon vertraut ist. 

An seiner jetzigen Schule werden Kinder aus vier Altersstufen (1. bis 4. Klasse) in einer Lerngruppe unterrichtet. Dank der regelmäßigen Gruppen- und Freiarbeit ist es möglich, sehr individuell auf jedes einzelne Kind einzugehen. Diese Schulform ist für Henri optimal - er geht richtig gern zur Schule und ich bin so froh, dass er auch dort wieder gut aufgehoben ist ... sowohl was das pädagogische Team als auch die Klassenkameraden betrifft. Letzte Woche hatten wir ein Entwicklungsgespräch mit seiner Klassenlehrerin (die zugleich Schulleiterin ist)  und der Integrationshelferin und ich war begeistert von den Arbeitmaterialien, die sie uns gezeigt haben. Der kleine Kerl schafft ja richtig was in der Schule :-) ... Ich war angetan. Dank des großen Engagements der Klassenlehrerin, aber auch des nicht weniger engagierten und liebevollen Wirkens seiner Integrationshelferin würde ich die aktuelle Schulsituation als fast optimal bezeichnen. Unserer Erfahrung nach steht und fällt die Beschulung eines behinderten Kindes mit den Menschen, die diese anspruchsvolle Arbeit tun. Dabei scheint es weniger auf den Studienanschluss anzukommen als auf den Willen und auch den Mut, neue Wege zu beschreiten. Henris Klassenlehrerin hat keine sonderpädagogische Ausbildung - auch wenn sie "nur" Grundschullehrerin ist und demnach nach allgemeinem Verständnis für den Umgang mit behinderten Kindern gar nicht geschult ist, beweist sie im Umgang mit Henri und dafür, was gerade ansteht, so viel Gespür, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass ein sog. Förderlehrer mit Schwerpunkt Inklusion dies besser tun könnte. Dieser Aspekt scheint mir insofern erwähnenswert, als ein Argument gegen Inklusion ist, man hätte gar nicht genug speziell für Inklusion geschulte Förderlehrer. Ich wage die These, dass ein Lehrer - ob nun Grundschul- oder Förderlehrer, behinderte Kinder auch dann an der Regelschule unterrichten kann, wenn er kein "Zusatzstudium für inklusiven Unterricht" absolviert hat. 

In den letzten Tagen sind mir in verschiedenen Foren, wo sich Eltern von Kindern mit DS austauschen, viele Vorbehalte gegen Integration und Inklusion begegnet. Im öffentlichen Rahmen, für jeden nachzulesen, tauchen dort für die Mutter des anderen Henri (der, der auf's Gymi "soll") Bewertungen auf, die es in sich haben: "Übermotivierte Mutter" oder "die, die die Behinderung ihres Sohnes nicht wahrhaben will", "die, die unseren Kindern mehr schadet als nutzt" und vieles mehr. Auch wenn ich die viel beworbene Jauch-Sendung zum Thema Inklusion am 25. Mai nicht gesehen habe, glaube ich dennoch allein aus unserer Erfahrung behaupten zu dürfen, dass Henris Mutter sehr wohl die Behinderung ihres Sohnes akzeptiert. Sie möchte nur, dass ihr Kind in einem Umfeld lernt, wo es nicht ausschließlich Behinderte gibt. Sie wünscht sich ein möglichst normale Umgebung für ihren Sohn... so wie alle anderen Mütter ...

Da wir nun bereits seit vier Jahren überaus gute Erfahrungen mit Integration gemacht haben, kann ich die Forderung von Henris Mutter sehr gut nachvollziehen - auch wenn ich mir diese Schulform für unseren Henri nicht vorstellen kann. 

Wenn man Schule nicht nur als Ort der Wissensvermittlung sieht, sondern anerkennt, wie wichtig nicht nur das intelektuelle Lernen, sondern auch das durch die vielen alltäglichen Erfahrungen geprägte soziale Lernen ist, sollte sich die Frage, warum Henri auf's Gymnsium soll" nicht mehr stellen.

 

Den in dem folgenden Blogbeitrag _ Inklusion: 20 Mythen, 20 Gegenargumente - verlinkten Artikel kann ich nur empfehlen!  

 

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